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Tirana-Manifest in Farbe

Tirana-Manifest in Farbe

„Als Stadtpräsident von Tirana habe ich die Chance, in der verrücktesten Stadt Europas in einer sehr kreativen Weise zu wirken, dies in den anarchischen Umständen einer noch nicht sehr gefestigten Demokratie. Hier zu politisieren kommt der konzeptuellen Kunst sehr nahe.“ (Edi Rama, Bürgermeister von Tirana, 2000-2011)

Als 2003 die Publikation „Tirana in Farbe“ (Velvet Verlag Luzern) erschien, prägten sich nie dagewesene Eindrücke von bunten Häusern in chaotischer Umgebung unwiderruflich in unseren Köpfen ein. Orange, gelb, rot gestreifte Häuser, Fassaden mit Karos und Farbfeldern in allen Nuancen des Farbkreise, ein grünes Haus mit gelben Pfeilen und eines mit einem grossen Schriftzug „these are the things, we are fighting for“. Das Buch war unser erster Kontakt mit Tirana und seiner Farbbewegung, es blieb bei einzelnen plakativen Bildern und unzusammenhängenden Fakten. Im Nebenher des Alltags reduzierten sie sich zusätzlich auf einige starke Einzelobjekte, deren Farben mit der Zeit in der Erinnerung eher noch kräftiger wurden, sicher nicht verblassten, wie es in Wirklichkeit geschah. Die Zeit blieb für uns quasi stehen.

An Tirana dachten wir immer dann, wenn von politisch motivierter Stadtgestaltung mit Farbe die Rede war, von der Kraft von Farbe im Stadtraum und im Besonderen von Farbe als Mittel der Sozialpolitik. Es war wie ein Reflex.

Tirana-Manifest in Farbe

Die Geschichte des farbigen Tirana beginnt im Jahr 2000 mit der Wahl von Edi Rama zum Bürgermeister. In seiner elfjährigen Amtszeit hat er die Stadt von kommunistischer Abgeschlossenheit in einen pulsierenden urbanen und weltoffenen Ort überführt. Dies mit Hilfe der Bevölkerung und mit Farbe. Hauptmotivation von Edi Rama war, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, nachdem er jahrzehntelang ein „streng organisiertes Gefängnis“ war und nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems ein Chaos „ohne Recht und Ordnung“. Farbe war das Signal für eine kollektive Aneignung des Raums, „ein Katalysator des Wechsels“, Kommunikation zwischen den Individuen und ihrer Umgebung. „Mit den Farben wollten wir zeigen, dass etwas geschah inmitten dieser grauen Welt. Es sollte so etwas wie ein Schock für die Augen geschaffen werden. Noch mehr als um eine ästhetische Angelegenheit, ging es uns um eine politische.“ Edi Rama war überzeugt, dass farbige Häuser ohne weiteres dazutun, mehr als nur Kosmetik seien, Farbe sei immer auch Inhalt und habe einen Einfluss auf Kommunikation und Beziehungen, sie sei eine Sache des Stolzes und der Würde.

Edi Rama war der Anstifter zu einer Farbbewegung, in der Farbe zu einem Alltagsthema wurde, das weder Mehrheit noch Applaus sucht. Denn der Kompromiss ist grau, sagt er. So wurden zu Beginn in Tirana Häuser bemalt, ohne die Bewohner zu fragen, Farbe war das Instrument, um ein neues Stadtbild zu formen, ein „primitiver Dekonstruktivismus“. „Inzwischen gibt es so etwas wie eine Kettenreaktion. Leute beginnen aus eigenem Antrieb ihre Häuser zu bemalen. Starke Farben sind Teil des Lebens hier geworden, bemalte Häuser eine Mehrheitshaltung.“ 

Viele Entwürfe machte Edi Rama, Künstler und ehemals Basketballspieler, selbst, die Ausführung wurde einer staatlichen Malerfirma übertragen. Zudem lud er Künstler ein, Entwürfe zu machen.

Das nachhaltige Echo der Farben von Tirana hat 2017 endlich die Idee gezündet, mit eigenen Augen zu schauen. Wir planten eine Studienreise mit angehenden Farbgestalterinnen und Farbgestaltern nach Tirana. Den Anspruch an uns selbst formulierten wir wie folgt: Wir wollten uns ein persönliches und differenziertes Bild machen von der Kultur und Kulturgeschichte von Tirana, vom städtischen Raum und seinen Farben. So haben wir uns zunächst in die Literatur Albaniens vertieft. Romane von Ismael Kadare und seiner Frau Helena Kadare haben uns eine Welt eröffnet, die faszinierend, sympathisch und zuweilen auch beunruhigend ist – immer aber zutiefst menschlich.

Im Vorfeld der Reise beschäftigte uns die Frage: „Wie werde ich mit meinen persönlichen ästhetischen Massstäben umgehen, mit meinen Wertvorstellungen in Bezug auf Angemessenheit in der Farbgestaltung? Uns trieb die Ambivalenz an, etwas zu betrachten, das wir zu tun uns niemals erlauben würden. Inwiefern würde unser gestalterisches Credo erschüttert – unser didaktisches Konzipieren in Frage gestellt?

In Tirana angekommen stellten wir zuerst fest: Der Grünraum ist dichter geworden, als er auf den Bildern von 2003 ist, die Fassaden stehen nicht mehr so frei im Licht. Die Patina und die teilweise verblichenen Farben schmeicheln unseren Augen. Und, es sind viel mehr Häuser bunt, als wir dachten. Neben den eingängigen Vorzeigeobjekten, deren Abbildungen weltweit kursieren, stehen tatsächlich unzählige weitere Objekte, vorwiegend Plattenbauten – mit unscheinbaren, raffinierten, plakativen und spektakulären Farbgestaltungen. Die Grenze zwischen Ornament und bauteilbezogener Farbgestaltung ist fliessend – es scheint tatsächlich alles möglich. Die farbigen Gestaltungen lösen sich da und dort komplett von der Architektur, sprengen den Rahmen. Die Fassaden werden so Teil des öffentlichen Raums, mehr als dass sie zum Gebäude gehören. Dies fasziniert und irritiert zugleich. Wurde nicht im Barock ähnliches gedacht und gebaut – Schaufassaden und falsche Kuppeln, die den öffentlichen Raum definieren?

Tirana-Manifest in Farbe

Als Anstrichstoffe musste und muss billiges Material verwendet werden, offensichtlich wird auch dieses manchmal knapp, was sich dann zeigt, wenn Farbe im Prozess ausgegangen ist oder verdünnt werden muss. Wir empfinden den Makel als charmant, weil er eine Geschichte erzählt und Hintergründe illustriert. Das Flüchtige, das nicht zuletzt darin besteht, dass die Farben über teils erodierte Oberflächen von Plattenbauten gestrichen wurden, verstärkt den Wert.

Die Stadtverwaltung investiert bis heute bewundernswert viel in die Aufwertung des öffentlichen Raums und die Pflege des Grünraums. Trotz der allgegenwärtigen Buntheit ist Grün die wichtigste Farbe in Tirana – das ist überraschend. Die Lana – der Fluss – ist ein Orientierungspunkt, ebenso der künstliche See und das grosse Boulevard. Sie ermöglichen eine Fokussierung, bilden Schneisen, ähnlich Ventilen für Luft und Freiraum. Die Stadt atmet sichtbar ihre Freiheit.

Tirana-Manifest in Farbe

Tirana befindet sich in einem gewaltigen Umbruch, viele Häuser sind baufällig – die Stadt wird sich in den nächsten Jahren verändern. Momentan ist sie gewissermassen in der Entwurfsphase. Es wird experimentiert und gespielt. Die Stadt braucht einen sorgfältigen Masterplan, der in seinen Entscheiden diese Phase berücksichtigt. 

Sollte man die Farben von Tirana unter Denkmalschutz stellen? Man sollte sie dokumentieren, über sie sprechen und von Tirana lernen. Im Sinne von ‚denk mal, statt Denkmal’. Es wäre ein Eingeständnis an das Vergessen, wenn die Spuren von der Emanzipation der individuellen Bürgerinnen und Bürger konserviert würden.

Eine weitere Frage, hat uns immer wieder umgetrieben: „Warum sind die Farben von Tirana kein Kitsch und unter welchen Bedingungen würden sie zu Kitsch?“ Einerseits ist es die Notwendigkeit, die ihrem Entstehen zu Grunde liegt, andererseits ist es das urbane Chaos, das die Individualität und das Experiment so scheinbar mühelos erträgt. Vielfalt, Spiel und Humor finden ihren Weg durch die unterschiedlichen, stets belebten Quartiere, bereichern und beleben sie. Störungen entstehen dann, wenn ein historisch gewachsenes Bild kopiert und an Neubauten appliziert wird. Dann wird sichtbar, was passiert, wenn Rezepte zur Anwendung kommen – nämlich genau das Kippen ins Kitschige. Dies ist rund um den neuen Markt ‚Pazar i Ri’ geschehen. Auf den umgebenden Fassaden von Neubauten wurde eine makellose Dekoration im Stil eines albanischen Teppichs aufgebracht, sie beweist: ein Rezept ist kein Konzept und die Farben von Tirana sind keine leicht zu reproduzierende Massenware.

Tirana-Manifest in Farbe

Wie reagieren zeitgenössische Architekten auf Tirana? Daniel Libeskind hat 2014 eine gigantische Wohnüberbauung mitten in der Stadt errichtet – eine befremdliche, weisse, dekonstruierte Wohnburg. Die Bewohnerinnen und Bewohner erschaffen sich heute Individualität auf den Balkonen, mit Storen und Pergolas. Wer das Haus betrachtet, hat keine Zweifel, weiss ist definitiv keine Alternative für Tirana – Tirana braucht auch gar keine Alternative, sondern ein Weiterbauen. Die Antwort von Libeskind ist jedoch „Tabuala rasa“ und blendet die letzten 20 Jahre Stadtentwicklung aus. 

Der TID Tower hingegen, ebenfalls ein neues Gebäude, setzt sich mit dem aktuellen Tirana auseinander, er flimmert, ist malerisch, hat eine offene Form. Das Hochhaus nimmt Bezug zur Stadt und antwortet ihr mit Standfestigkeit. Überblick und Orientierung. Das Team von 51N4E Architekten aus Brüssel gab der Stadt ein neues Wahrzeichen, das als Vorbild für weitere Neubauten dienen sollte.

Tirana-Manifest in Farbe

Der TID_Tower im Hintergrund

Zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern Farbe in Tirana zur Kultur geworden ist und unterdessen untrennbar mit der Stadt verbunden ist. Die Antwort ist eher ‚nein’, denn sie liegt in der Erkenntnis, dass es eigentlich nie um Farbe ging und auch nicht um Architektur – es ging um die Menschen und den öffentlichen Raum. Die Fassaden sind wie Litfasssäulen für Botschaften benutzt worden. Da die Farbbewegung aus wirklicher Notwendigkeit entstanden ist, war sie von Anfang an funktional. Die Frage, subjektiven, ästhetischen Idealen gerecht zu werden, hat Edi Rama vielleicht für sich gestellt, die Antworten aber wurden in mannigfaltiger Weise erweitert und appliziert. 

Was in Tirana entstanden ist, musste nicht in erster Linie schön sein, sondern unmittelbar wirken. Dass es so nachhaltig wirkt und uns heute noch betört, ist ein Merkmal dafür, dass es auch unsere ästhetischen Sinne über die politischen Umstände hinaus berührt und offenbar erfolgreich ist.

Alle Zitate stammen aus: Tirana in Farbe, Velvet Verlag Luzern 2003

Text
Marcella Wenger und Stefanie Wettstein

Bilder
Haus der Farbe


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